Über den Nutzen von Leitlinien in der Medizin. Im Gespräch mit Professor Grenacher
Basierend auf wissenschaftlichen Erkenntnissen erstellen Experten aus allen relevanten Fachgebieten für eine spezielle Erkrankung gemeinsam sog. Leitlinien, um medizinischem Personal und hier insbesondere den behandelnden Ärzten in spezifischen Situationen Entscheidungshilfen zu bieten.
Die Arbeitsgemeinschaft der wissenschaftlichen medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) umfasst 180 Fachgesellschaften, die an der Erstellung solcher Leitlinien beteiligt sind und die man auf der Homepage der AWMF abrufen kann (http://awmf.org).
Leitlinien werden dabei mehr und mehr zu den Grundpfeilern der Behandlungspfade und existieren in vielfältigen Gebieten der Medizin, beispielsweise zur Behandlung von Akne, zur Behandlung Schwerstverletzter, zur invasiven Beatmung, zur Behandlung von Diabetes, Rheuma, Essstörungen und natürlich zu fast allen Tumoren. Derzeit sind über 1000 Leitlinien verfügbar, die ständig aktualisiert werden.
Das klingt sehr evident und wertvoll für den medizinischen Alltag. Nichtsdestoweniger gibt es auch kritische Stimmen. Leitlinien sind nicht rechtlich bindend und haben weder haftungsbegründende noch -befreiende Wirkung. Worin liegt dennoch ihre Relevanz?
Zunächst einmal lohnt sich der Blick auf den Prozess. Der erste Schritt ist die Erarbeitung eines Konzepts, welches Themen aufgreift, die möglicherweise eine Revision benötigen. Dieses Proposal geht dann an eine Leitlinienkommission, die sog. Steuergruppe der Leitlinie, die sich in einem Konsensus-Meeting zu den bearbeitungsrelevanten Themen einer spezifischen Leitlinie bespricht, sie diskutiert und in einem Manuskript die wesentlichen Neuerungen durch die Aktualisierung festhält. In einzelnen Arbeitsgruppen unter Leitung jeweils eines Experten aus der Steuergruppe werden nun die Neuerungen diskutiert und anhand der aktuellen Literatur oder anhand einer Literatur-de-novo-Recherche bezüglich der neu formulierten Empfehlungen diskutiert und in ihrer Empfehlungsstärke und ihrem Evidenzlevel bewertet. Unter allen beteiligten Mitgliedern folgt dann eine Zirkulations- und Manuskriptphase, welche etwas länger dauern kann und in der die Empfehlungen durch ein Online-Konsensus-Verfahren im Rahmen einer Delphi-Befragung von allen Mitgliedern konsentiert werden. In dieser Phase werden alle Aspekte eingearbeitet, die eine aktuelle Relevanz haben.
Sind die Empfehlungen konsentiert, geht eine erste komplette schriftliche Fassung der neuen Leitlinie zunächst an alle Experten, die bei der Konsentierung beteiligt waren, danach an alle beteiligten Fachgesellschaften und wird erst nach deren Zustimmung auf der Homepage der AWMF publiziert.
Heutzutage gibt es üblicherweise eine Langversion (Empfehlungen mit Hintergrundtexten), eine Kurzversion (nur die Empfehlungen) und bei vielen Tumoren auch eine leichter lesbare Patientenversion.

Dieser lange Prozess kann ein Hindernis sein. Was passiert, wenn es währenddessen neue Erkenntnisse gibt? Professor Dr. Lars Grenacher von der Conradia München beantwortet uns hierzu einige Fragen.
Er ist selbst seit über 10 Jahren mit der Leitlinienarbeit für die AWMF als Vertreter der Dt. Röntgengesellschaft in seinen onkologischen Spezialgebieten beschäftigt und Mitglied der Steuergruppe für Pankreasleitlinien in Deutschland, Leiter der Diagnostikgruppe für die S3-Leitlinie beim Pankreaskarzinom und der S3-Leitlinie der Pankreatitis, sowie Leiter der Diagnostikgruppe der europäischen Leitlinie von zystischen Pankreastumoren.
Warum gibt es überhaupt eine Leitlinie zum Pankreaskarzinom?
Prof. Grenacher: Aufgrund der weltweit schlechtesten Prognose des Pankreaskarzinoms unter allen Tumorentitäten ist es trotz intensiver Bemühungen in der Grundlagenforschung und klinischen Forschung nur bedingt gelungen, das Langzeitüberleben zu verbessern. Die Idee einer S3-Leitlinie dabei war es, vorhandene Evidenzen aus den Ursachen, der Diagnostik, Therapie und Nachsorge systematisch zu sammeln und zusammenzustellen, sowie interdisziplinär zu bewerten. Das Ziel war dabei die Sicherstellung einer evidenzbasierten, flächendeckenden, optimalen Versorgung von Patienten mit einem Pankreaskarzinom. So waren an der Erstellung der im Januar 2022 publizierten Pankreaskarzinomleitlinie über 70 Experten aus 30 Fachgesellschaften beteiligt.
Was passiert denn nun, wenn während des langwierigen Leitlinienprozesses neue Erkenntnisse auftauchen?
Prof. Grenacher: Alle modernen Leitlinien werden inzwischen als sog. „lebende Leitlinien“ geführt, damit sie nicht als völlig veraltete Staubfänger im Online-Archiv ihr Dasein fristen. Die Steuergruppen solcher lebender Leitlinien treffen sich online alle sechs bis acht Wochen und diskutieren kontinuierlich neue Erkenntnisse. Diese werden dann in einem jährlichen Konsensustreffen (ebenfalls online) von den Experten konsentiert und sofort wieder online zur Verfügung gestellt. So ist der ganze Prozess wesentlich schlanker und schneller, und selbst im schlechtesten Fall ist eine neue Erkenntnis, die erst kurz nach der Veröffentlichung der Leitlinie erschienen ist, schon im darauffolgenden Jahr berücksichtigt.
Einige Kritiker befürchten, dass die methodische Qualität der Leitlinien unzureichend ist.
Prof. Grenacher: Ich glaube, das stimmt so nicht. Man darf in diesem Zusammenhang nicht vergessen, dass die Methoden sehr strengen Prozessen unterliegen und dass nicht jede neue Publikation zu Änderungen der Leitlinie führt. Es gibt klare Vorgaben über die Studienstärke (-qualität), die von der Steuergruppe vorab bewertet werden (sog. Evidenzlevel), ob es sich wirklich um eine bahnbrechende Änderung der Therapieschemata handelt oder vielleicht nur um eine Eintagsfliege. Nicht immer gibt es aber genügend Evidenzen. Viele Aspekte von Leitlinien beruhen auch auf langjährigen Erfahrungen in der klinischen Routine, einem sog. Expertenkonsens.
Dadurch wäre in der Umsetzung eine bessere Versorgung nicht unbedingt gewährleistet.
Prof. Grenacher: Auch das ist nicht von der Hand zu weisen, jedoch differenziert zu betrachten. Leitlinien sind kein Goldstandard und können im Prozess diskutiert werden. Die Debatte und Kritik sind auch wichtig für die Entwicklung, denn dadurch bestehen zusätzliche Verbesserungsmöglichkeiten. Letztlich unterliegt jede Empfehlung wissenschaftlich fundierten Erkenntnissen oder zumindest einem breiten „Expertenkonsens“.
Natürlich hat nicht jeder medizinische Bereich einen speziellen Nutzen von Leitlinien. Laut Prof. Grenacher sind es vor allem „Themen oder Fachgebiete, bei denen die zur Verfügung stehenden Daten für die Kollegen häufig nicht konklusiv und sehr schwierig zu interpretieren sind. Das können bei Tumoren zum Beispiel Auslöser durch die Ernährung sein, aber auch Empfehlung zur Vorsorge. Das gilt darüber hinaus für radiologische beziehungsweise diagnostische Themen, aber auch für die häufig sich rasant weiterentwickelnden Krebs-Therapien von bestimmten Erkrankungen durch neue Erkenntnisse zum Beispiel im Bereich der genetischen Ursachen und bei den zielgerichteten Therapien.“
So kennen wir zum Beispiel bei den Gallenwegtumoren inzwischen fast 100 genetische Varianten, die bei den zielgerichteten Immuntherapien das Überleben dramatisch verlängern können, wenn so eine Mutation bei einem Patienten festgestellt wird.
Leitlinien in der Medizin sind ein relevantes Thema, da sie in der immer breiter und heterogener werdenden Therapielandschaft nicht nur eine Orientierung und Hilfestellung bieten, sondern inzwischen konkrete Diagnose- und Therapiealgorithmen liefern, die genau das tun, wofür Leitlinien ursprünglich eingeführt wurden: nämlich zur optimalen Versorgung von Patienten und zur Sicherung eines Langzeitüberlebens in bester Lebensqualität.
Andererseits sind sie eben nur das – eine Unterstützung. Am Ende müssen Medizinerinnen und Mediziner selbst entscheiden, welche Form der Therapie die bestmögliche Versorgung für ihre Patientinnen und Patienten bietet. Die „lebende Leitlinie“ findet allerdings mehr und mehr Beachtung als Grundlage der Vergütung der Krankenkassen aufgrund der hohen Expertise der Ersteller und der ständigen Aktualität und entwickelt sich immer mehr zum relevanten Basiswissen für alle Ärzte, Diagnostiker und Therapeuten
4. Wo könnten wir als Radiologienetz diese Korrekturen wie einfordern?
Unser Vorschlag ist es, die zuvor ausgeführten Erläuterungen aktiv zu streuen. Anfangen würden wir mit einer Einladung der Referatsleiterin von Destatis in Wiesbaden zu einem Fachgespräch, bei dem wir unsere bisherigen Expertisen, Gutachten und Berechnungen vorlegen und erläutern. Danach würden wir dem BDR bzw. der DRG (Nafrad) anbieten, unsere Argumentationshilfen im Honorar-Lobbying zu nutzen. Parallel würden wir KVen, Verbände, Versicherungen informieren. Zu überlegen wäre, ob wir nicht ein wissenschaftlich fundiertes Gutachten eines Meinungsführers dazu beauftragen und dann in der Presse lancieren. Auf jeden Fall werden wir gezielte Blogbeiträge und Leserbriefe zu einschlägigen Artikeln verfassen und platzieren. Schwierig wird hingegen im Rahmen des Honorar-Lobbyings zu erklären sein, warum gerade die Radiologiepraxen derzeit zu Höchstpreisen aufgekauft und zu kaufmännisch kaum nachvollziehbaren Gewinnmultiples unter Private-Equity-Investoren weiterverkauft werden.
Auf den Vollversammlungen, im Fachbeirat und auf dem Radiologentag werden wir dieses Vorgehen mit allen interessierten Mitgliedsradiologen diskutieren und abstimmen. Wir hoffen auf Ihre Unterstützung, im Sinne Ihrer Praxen! Die Kunst wird sein, durch diese Art des Honorar-Lobbyings den durch die Presse multiplizierten schädlichen Fehlinterpretationen evidenzbasierte Argumente entgegenzusetzen und die gesundheitspolitischen Entscheidungsträger besser zu informieren. Nicht mehr, aber auch nicht weniger!
Ihre Ansprechpartner:
Dr. Johannes Schmidt-Tophoff
(Abschnitt 1,3 und 4)
Dorothea Schmid
(Abschnitt 2)