Szenario Radiologie 2030 – Orientierungshilfe für strategische Praxisplanung

Dramatische Veränderungen in der Radiologie in jüngster Zeit, wie z. B. Digitalisierung, Praxiskonsolidierung oder Personalknappheit erfordern eine Überarbeitung des Curagita-Zukunftsszenarios „Radiologie 2020“ aus dem Jahr 2006. Ziel des Zukunftsszenarios bleibt eine „schwarmintelligente“ Entscheidungshilfe aus der Perspektive und für niedergelassene freiberufliche Radiologinnen und Radiologen hinsichtlich der nächsten sieben Jahre.

Vor dem Hintergrund globaler und nationaler Trends im Gesundheitswesen sowie der erwartbaren Wohlstandsrückgänge in Deutschland sind heute bereits 10 Haupttrends für die niedergelassene freiberufliche Radiologie erkennbar: 

1. Anhaltende Personalverknappung und -verteuerung

2. Weitere Zunahme investoren­­­- ge­führter MVZ

3. Sinkende Praxisgewinne, neue ­Betriebsformen

4. Umfassender Wandel in der ­Krankenhaus-Radiologie

5. Beschleunigter Zugriff von ­Teil­gebietsradiologen

6. Souveränere, informierte Patienten

7. Gering unterstützende Verbände, Kassen, Versicherungen

8. Parallele Industriekonsolidierung mit Fokus auf KI

9. Weitere Aufspaltung des Fach­gebiets Radiologie

10. Sicherer Megatrend Künstliche ­Intelligenz (KI) und umfassende Digitalisierung

Glaubt man diesen, insbesondere dem alle anderen Trends treibenden KI-Haupttrend, und wehrt sich nicht dagegen, droht ein für niedergelassene Radiologen fast undenkbares Langfristszenario: Es wird mehr ­Radiologie geben, aber eher in Kranken- und in Ärztehäusern als in Radiologiepraxen von freiberuflichen Radiologen. Präventanten und Patienten etwa würden ihre in einem Großgerätepark oder bei Teilgebietsradiologen automatisiert gemachten Bilder bei Google hochladen und sekundenschnell eine quantifizierte und qualifizierte Befundung und Diagnose mit Online-Arzt- bzw. Therapieempfehlung erhalten. Dieses Droh­­szenario sollten niedergelassene Radiologen bannen und berufspolitische wie unternehmerische Gegenmaßnahmen einleiten. Bis dahin – nicht vor 2040 – wäre es jedoch ein weiter Weg, auf dem sich ab 2030 Szenarien für die freiberufliche Radiologie verdichten könnten, die zugleich ein großes Potenzial für Radiologenunternehmer bieten:

1. Subspezialisierte Radiologie ­ als Unterdisziplin von Teilgebiets­radiologie-Fächern

2. Fachgebietsübergreifende ­Dia­gnoseabteilungen in integrierten Kranken- und Ärztehäusern

3. Zertifizierte, von Kassen honorierte, von Zuweisern eingesetzte KI

4. Massenversorgung durch ­„Aldi“-Radiologie neben ­Diagnostik-­Boutiquen

5. Radiologen zu präventions- und ­primärärztlichen Gatekeepern, Coachs

Ob freiberufliche Radiologen diesen Szenarien glauben oder sie als Anregung nutzen: ihnen sind einmal mehr die strategische Praxisentwicklung und die frühzeitige Absicherung der eigenen, lokalen Krankenhaus-, Arzt- und Patienten-„Märkte“ anzuraten. Daneben sollten sie sich intensiv mit KI beschäftigen und eine „active surveillance“ der hier genannten Trends und ihrer Einflussfaktoren betreiben. Dabei helfen ihnen ein die Zukunft antizipierendes und unternehmerisch gestaltendes, Kräfte bündelndes Radiologienetz sowie der Netzmanager und Dienstleister Curagita. 

Der hier grob skizzierte Entwurf wurde erstmals mit Mitgliedsradiologen auf der Vollversammlung am 27. September diskutiert, anschließend ausgiebig und durchaus kontrovers mit den radiologischen Fachbeiräten am 10. Oktober. Parallel wurde er an ausgewählte Insider und Experten aus Radiologie und Industrie, an KI-Firmen, BDR, DRG sowie Teilgebietsradiologen verschickt, um vertiefende Interviews zu führen. Die Gesprächsergebnisse flossen in die Überarbeitung des Thesenpapiers ein. Es ist geplant, das Szenario 2030 nach der Diskussion auf dem Radiologienetz-Tag sowie nach Input vom RSNA bis Weihnachten fertigzustellen und den Mitgliedspraxen verfügbar zu machen.

Warum ein Update des ­Curagita-Zukunfts­szenarios?

Unser bisheriges Curagita-Zukunftsszenario greift nicht mehr. Ein Update ist nötig. Warum? Aus heutiger Sicht sind etwa die Hälfte unserer 10 Vorhersagen (vgl. Curagita 2006) aus 2006 für 2020 eingetreten (Eintritt JA oder NEIN).

Einige der Trends sind nicht oder nur in sehr geringem Maße eingetreten, insbesondere im medizinischen und im Kassenbereich. Neue Themen kamen hinzu. Auch ein Szenario-Update des Radiologienetz-Fachbeirats 2017 greift nicht weit genug:

1. Nachfrage nach Radiologie insb. Vorsorgeuntersuchungen steigt, denn „Baby Boomer kommen ins Tumoralter“.

2. CAD, KI, Digitalisierung, Automa­tisierung und Spezialisierung in der Radiologie nehmen zu.

3. Krankenhäuser übernehmen mehr ambulante Versorgung. Praxen konzentrieren sich, Ketten auf dem Vormarsch.

4. Interesse an Freiberuflichkeit und der Übernahme unternehmerischen Risikos nehmen ab, allgemeiner Kampf um Personal nimmt zu.

5. Langwierigere Umsetzung der ­molekularen Bildgebung.

Literatur gibt zu wenig Orientierung für die Niedergelassenen

Die kaum vorhandene, meist universitäre und industriegeleitete Literatur zur Zukunft der Radiologie ersetzt ein eigenes Zukunftsszenario für deutsche Radiologiepraxen nicht, denn sie ist häufig

1. Interessengeleitet, ohne auf die Interessen der niedergelassenen, deutschen Freiberufler einzugehen: Hersteller haben Gerätetechnik im Fokus, Ingenieure den technischen oder IT-Fokus, Universitäten den wissenschaftlichen und Krankenhäuser den stationären Bereich.

2. Wunschdenken: Selten werden bei aller Technikeuphorie („Mögliche“) rechtliche oder Budgetgrenzen bei Kostenträgern, Patienten („Machbare“) einbezogen. Bei jeder Diskussion um performante KI-Systeme wird nicht vergessen zu erwähnen, dass es sich um eine hervorragende Unterstützung der Arbeit des Radiologen und nicht um dessen Ersatz geht.

3. auf Medizin und IT beschränkt: KI-Publikationen sind (häufig IT-euphorisch) auf radiologische Untersuchung und Befundung fokussiert. Zukunftsstudien stammen von Ärzten mit primär medizinischen bzw. (IT- und Geräte-) technischem Interesse. Organisatorische Aspekte, das Praxismanagement oder Konsolidierungseffekte werden kaum problematisiert.

4. politisch zu korrekt: Viele Szenarien können womöglich aus politischer Korrektheit nicht auf weniger Radiologiepraxis-bezogene als eher gesellschaftliche Aspekte wie One World of Equals, Genderthemen, Diversity, Klimawandel, Ökologie und Green Economy oder Sharing Economy verzichten.

SIEMENS Trendkategorien

In Bezug auf „The Future of Radiology“ unterscheidet Siemens 2022 vier Trendkategorien (vgl. Siemens 2022):

1. Patient experience & healing infra­structure, wo es um die Optimierung der Wartezeiten und Patientenkomfort geht

2. Value-based radiology & patient journey, wo zunehmend interdisziplinäre und sub-spezialisierte Radiologen Kosten-Nutzen beweisen und gewährleisten müssen

3. Networked care mit Zuweisern, Kostenträgern und Patienten und dem Zusammenspiel bei Notfall, stationären und ambulanten Patienten

4. Digital/data/AI

Das Zukunftsforum im Rahmen der Brit­ish Society of Radiology hat folgende herunterladbare Interviews zur Zukunft der Radio­logie weltweit veröffentlicht (Zugriff 21.09.23):

„The Global Future of Imaging, published on 6 November 2019, is a 24 page report with insight from some of the foremost imaging professionals from around the world. Radiology is helping to transform healthcare as it advances at an accelerating rate. The BIR World Partner Network – a global collection of leading societies representing around 600,000 imaging and oncology professionals – collaborated to produce a global barometer showing the changes that are emerging locally and worldwide. Presidents and senior officers of 18 professional societies answered a series of questions about the future of imaging: what they considered would be the single most positive development in the next 10 years; the biggest obstacle to progress in imaging in the world; and how imaging professionals can prepare themselves for future success. The result is this fascinating report showing where imaging is heading, how this diverges from country to country, and what the key challenges and opportunities are for imaging professionals.“ (Home Page BSR 2019; Zugriff 21.09.23)

Szenariotechnik als Methode der Wahl

Die Methodik der Szenariotechnik soll hier weiterverwendet werden. Sie bleibt mangels Alternativen erste Wahl, obwohl ihre Vorhersagequalität in den letzten Jahren hinterfragt werden musste. Zu häufig durchkreuzten nicht vorhergesehene oder nur geringgewichtete Strukturbrüche die Szenarien. Beispiele dafür sind der Fukushima-Atomunfall, Corona/Covid-Pandemie, Ukraine-Krieg und Energiekrise, Flüchtlingszustrom oder die Logistik-Krise aufgrund des Unfalls im Suezkanal. Gerne würden wir einschlägige Szenarien für das Gesundheitswesen heranziehen, wenn sie für die niedergelassene Radiologie relevanter wären.

Unser Fokus liegt auf der deutschen niedergelassenen Radiologie, aus deren freiberuflicher Perspektive wir die Zukunft beleuchten wollen. Unseren diesbezüglichen Bezugsrahmen haben wir schon 2012 in der Veröffentlichung „CuraSequenz“ vorgelegt:

Radiologenunternehmer fragen sich, was aus ihrem Beruf und ihrer Praxis wird. Lohnen sich Wachstum und Restrukturierung, Investitionen in neue Technologien? Finden sie Personal und Nachfolger? Sollten sie freiberuflich arbeiten oder ihre Praxis verkaufen und sich anstellen lassen? Reicht die Arbeit und deren Vergütung zum Leben und zur Altersversorgung? Womit sollen sie sich beschäftigen, was müssen sie abwehren? Was können sie wie entscheiden? Wie können sie in der Zukunft mit der immer performanteren KI umgehen? Worauf sollen sie stolz sein?

Diese Fragen wird unser Zukunftsszenario nicht beantworten, aber doch vielleicht eingrenzen und bei der individuellen Beantwortung helfen können. Unser Ziel ist nicht die statistisch ermittelte Prognose oder die wissenschaftlich fundierte, verlässliche Vorhersage, sondern die pragmatische, heuristisch gedachte Anregung und Auseinandersetzung mit möglichen Trends und Szenarien für Radiologenunternehmer im Radiologienetz. Wir wollen im „schwarmintelligenten“ Diskurs die wesentlichen Trends aufzeigen, die auf sie wirkenden Einflussfaktoren und die sich daraus ergebenden Konsequenzen, wenn wir ihre Eintrittswahrscheinlichkeit und ihre Fristigkeit auch nur grob eingrenzen.

Im Gegensatz zum früheren Zukunftsszenario mit einem Vorhersagezeitraum von 15 Jahren, wählen wir nun einen kürzeren von 7 Jahren. Wir glauben, dass die Trends Konsolidierung, Personalknappheit, KI schon längst begonnen haben und sich bereits in den nächsten 7 Jahren strukturverändernd auswirken werden. Umgekehrt wissen wir, dass Trends vielleicht linear verlaufen, aber ihre Fristigkeit schwer einzuschätzen ist, weil bekannterweise die diversen rechtlichen, budgettechnischen, berufs- und fachgebietspolitischen und regulatorischen Mühlen langsamer als die des schon heute fulminanten Technikfortschritts mahlen.