B´90 / Die Grünen fordern eine „solidarisch finanzierte Bürgerversicherung“
Aufgrund der allgemeinen Stimmungslage in Deutschland, ist eine Regierungsbeteiligung der Grünen durchaus wahrscheinlich. Grund genug, sich mit dem gesundheitspolitischen Abschnitt ihres Wahlprogramms zu beschäftigen. Die CuraCompact-Redaktion hat die Herausgeber des Schützebriefs um Information und Bewertung gebeten. Hier das Ergebnis.
Der Parteivorstand von Bündnis 90/Die Grünen hat ein Wahlprogramm für die Bundestagswahl vorgelegt. Der gesundheitspolitische Abschnitt des Entwurfs umfasst sechs Seiten und steht unter dem Motto: „Wir geben Gesundheit und Pflege einen neuen Wert“.
Einige wichtige Aspekte des Programmentwurfs:
Solidarisch finanzierte Bürgerversicherung
Besondere Aufmerksamkeit hat in der Öffentlichkeit der Vorschlag zu einer „solidarisch finanzierten Bürgerversicherung“ gefunden. Unser Ziel ist eine solidarisch finanzierte Bürgerversicherung, in der jeder unabhängig vom Einkommen die Versorgung bekommt, die er oder sie braucht, so heißt es.
Bemerkenswert: Der Vorschlag der Grünen sieht nicht die Abschaffung der Privaten Krankenversicherung als Vollversicherung vor. In die Finanzierung eines neuen leistungsstarken Versicherungssystems sollen auch Beamte, Selbständige, Unternehmer und Abgeordnete mit einkommensabhängigen Beiträgen einbezogen werden. Neben Löhnen und Gehältern sollen auch Beiträge auf Kapitaleinkommen erhoben werden.
Aus dem so erweiterten Gesundheitsfonds sollen dann alle Bürgerinnen und Bürger eine Pauschale zur Finanzierung ihrer Krankenversicherung, entweder in der gesetzlichen Krankenversicherung oder in der privaten Krankenversicherung, erhalten.
Die Begründung fällt kurz und knapp aus: Gesetzlich Versicherte warten länger auf Termine bei Fachärzte, und viele privat Versicherte können sich die hohen Prämien nicht mehr leisten. Von dieser Zwei-Klassen-Medizin profitieren wenige, zum Nachteil vieler.
Auch der „neue“ Vorschlag der Grünen zielt nach Meinung des Verbandes der Privaten Krankenversicherung (PKV-Verband) auf die Abschaffung der PKV und des dualen Systems, nämlich durch Einbeziehung der PKV in den Gesundheitsfonds der gesetzlichen Krankenversicherung. Die Kritik des PKV-Verbandes: Das Bürgerversicherungsszenario sieht vor, dass Privatversicherte wie GKV-Versicherte einkommensabhängige Beiträge in den Gesundheitsfonds einzahlen. Aus diesem würden sie wie im GKV-System eine durchschnittliche Pauschale ‚ausgezahlt‘ bekommen und könnten sich dann für eine Kasse oder ein PKV-Unternehmen entscheiden. Viele Privatversicherte – insbesondere alle Angestellten in der PKV – müssten dann den Höchstbetrag in den Fonds einzahlen – und würden nur eine deutlich niedrigere Prämie aus ihm zurückerhalten. Nach diesem Minusgeschäft müssten sie dann nochmals Geld drauflegen, um ihren realen PKV-Beitrag zu zahlen. Der wird schon allein durch den zusätzlichen Aufbau des PKV-typischen Vorsorgekapitals für die höheren Gesundheitskosten im Alter entsprechend höher sein. Die Differenz müssten die Versicherten also zusätzlich aufbringen.
Stationäre Versorgung
Einen Schwerpunkt im Programm stellen verschiedene Vorschläge zu einer Finanzierungs- und Strukturreform in der stationären Versorgung dar. Die Krankenhäuser sollen „nach gesellschaftlichem Auftrag“ finanziert werden. Falsche politische Weichenstellungen und der daraus folgende ökonomische Druck hätten zu Fehlanreizen zu Lasten des Patientenwohls und zu Kosteneinsparungen zu Lasten des Personals geführt. Die Reformvorschläge für den stationären Sektor lauten:
- „Kliniken sollen in Zukunft nicht mehr nur nach Fallzahl, sondern auch nach ihrem gesellschaftlichen Auftrag finanziert werden. Dafür braucht es ein neues Finanzierungssystem.
- Wir werden eine Säule der Strukturfinanzierung einführen und den verbleibenden fallzahlabhängigen Vergütungsteil reformieren.
- Vielfach herrscht Stillstand bei den Investitionen in die Krankenhäuser. Das wollen wir ändern, indem Bund und Länder die Investitionskosten in Zukunft gemeinsam tragen.
- Der Bund soll dafür die Möglichkeit haben, gemeinsame bundesweite Grundsätze in der Krankenhausplanung zu definieren.
- Krankenhäuser, die durch fehlende Auslastung die nötige Qualität in einigen Bereichen nicht gewährleisten können, sollen nicht einfach aufgegeben, sondern zu leistungsfähigen lokalen Notfall-, Gesundheits- und Pflegezentren weiterentwickelt werden.“
Errichtung von Gesundheitsregionen und kommunalen Gesundheitszentren
„Um die Versorgung in Stadt und Land zu stärken, soll die ambulante und stationäre Versorgung in Zukunft übergreifend geplant und Gesundheitsregionen mit enger Anbindung an die Kommunen gefördert werden. Perspektivisch soll es eine gemeinsame Abrechnungssystematik für ambulante und stationäre Leistungen geben. Auf der politischen Agenda steht die Einrichtung von kommunalen Gesundheitszentren, in denen alle Gesundheitsberufe auf Augenhöhe zusammenarbeiten sollen.“
Ambulante und stationäre Pflege
Die Grünen wollen die rechtlichen Rahmenbedingungen für eine Quartierspflege schaffen und den Kommunen ermöglichen, eine verbindliche Pflegebedarfsplanung vorzunehmen, um das Angebot an Pflege vor Ort zu gestalten. Ein Bundesprogramm soll eine Anschubfinanzierung für Kommunen bereitstellen. Menschen, die Verantwortung für Angehörige, Nachbarn oder Freunde übernehmen, sollen mit der „PflegeZeit Plus“ besonders unterstützt werden. Allen Erwerbstätigen soll damit eine bis zu dreimonatige Freistellung sowie eine Lohnersatzleistung ermöglicht werden, die befristet auch anschließende Arbeitszeitreduzierungen finanziell abfedert.
Auf der Agenda von den Grünen steht auch eine „doppelte Pflegegarantie“. Damit sollen die Eigenanteile bei der stationären Pflege schnell gesenkt und dauerhaft gedeckelt werden. Damit soll garantiert werden, dass die selbst aufzubringenden Kosten verlässlich planbar werden. Die Pflegeversicherung soll alle über diesen Betrag hinausgehenden Kosten für eine bedarfsgerechte Pflege tragen. Mit einer solidarischen Pflege-Bürgerversicherung soll dafür gesorgt werden, sich alle mit einkommensabhängigen Beiträgen an der Finanzierung des Pflegerisikos beteiligen.
Die Vorschläge der Grünen bedeuten eine radikale Veränderung des Krankenversicherungssystems, die einige verfassungsrechtliche Fragen hinsichtlich der PKV-Versicherten aufwirft. Darüber hinaus würde ein solches Modell über kurz oder lang zu einem Ausbluten der PKV-Krankenversicherung führen. Damit würde eine wichtige Säule der eigenständigen Finanzierung von Gesundheits-Leistungen im Gesundheitssystem wegbrechen. Elemente aus dem grünen Wahlprogramm der Krankenhausfinanzierung hingegen könnten durchaus Ansätze bilden, die auch bei den anderen politischen Parteien auf Zustimmung stoßen könnten, denn nach wie vor ist die fehlende Investitionsfinanzierung durch die Bundesländer die „Mega-Problematik“, die auch in der kommenden Legislaturperiode wieder zu neuen Reformansätzen führen dürfte. Die Errichtung von Gesundheitsregionen klingt schon in manchen Bundesländern in kleineren Maßstäben durch Selektivvertragskonstruktionen an. Auch die Ausgestaltung Medizinischer Versorgungszentren in der Region dürfte hier eine wesentliche Rolle spielen. Hier dürfte wahrscheinlich bei einer machtvollen grünen Regierungsbeteiligung ein Ansatz der Erweiterung von Selektivvertrags-Konstruktionen verfolgt werden – das hängt aber nicht zuletzt von der Konstellation der in den Regionen vertretenen gesetzlichen Krankenversicherungen ab. Inwieweit in der Pflegeversicherung tatsächlich eine grundlegende Zusammenführung versucht wird – dies erscheint Experten aufgrund ihres gleichgeschalteten Aufbaus am ehesten möglich – dürfte von der Regierungskonstellation nach den Bundestagswahlen abhängen. Sollte eine grün-rote oder rot-grüne Regierung an die Macht kommen, wäre ein solcher Zusammenführungs-Versuch zumindest nicht im Reich des Unmöglichen angesiedelt.
Ihr Ansprechpartner:
Dr. Johannes Schmidt-Tophoff
Dieser Artikel stammt vom Leo Schütze Verlag, Herausgeber des "Schütze-Briefs". Curagita übernimmt keine Gewähr für die Richtigkeit dieser Informationen