Strukturierte Befundung: Segen oder Albtraum?
Automatisierung und Standardisierung sind branchenübergreifend ein Thema, auch in der Radiologie. In diesem Zusammenhang ist vor allem in letzter Zeit immer wieder von strukturierter Befundung die Rede. Doch schon bei der Diskussion, was strukturierte Befundung tatsächlich ist, gehen die Meinungen auseinander. Die Frage nach Sinn und Unsinn entzweit die Gemüter nicht selten. Wir haben uns mit Prof. Dr. med. Lars Grenacher darüber unterhalten, Ärztlicher Direktor, Geschäftsführer und Facharzt für Radiologie bei der Diagnostik München.
Was ist strukturierte Befundung – nicht?
Nach wie vor ist die Begriffsdefinition kein einfaches Unterfangen. Prof. Dr. Grenacher zäumt in diesem Zusammenhang das Pferd gern von hinten auf: „Zuerst einmal gilt es zu klären, was strukturierte Befundung nicht bedeutet. Sie bedeutet nicht, dass ich als Radiologe immer wieder auf die gleiche Art und Weise einen Befundtext verfasse. Nur weil ich es an dieser Stelle immer wieder gleich tue, liegt hier noch keine strukturierte Befundung vor.“
Strukturierte Befundung hat den Ansatz, einen Befund thematisch zu strukturieren. „Bei der strukturierten Befundung wird für bestimmte Fragestellungen, Organe und Untersuchungen standardisiert über alle Institutionen hinweg immer die gleiche Form einer vorgegebenen Befundstruktur genutzt.“
Eine Sprache für alle Befunde
Die Grundlage bilden dabei vorformulierte Textbausteine, wobei ausschließlich Wörter aus kontrollierten Vokabularien verwendet werden. „Typischerweise greift man hier auf das RadLex als vordefinierte Quelle zurück. Das amerikanische Vokabular RadLex umfasst praktisch alle medizinischen Begriffe.“ Ein professionelles Übersetzungsbüro übersetzt derzeit im Auftrag der Deutschen Röntgengesellschaft das RadLex. Um auszuschließen, dass die Begrifflichkeiten womöglich falsch übersetzt werden, kontrollieren die Arbeitsgemeinschaften der Deutschen Röntgengesellschaft alle Übersetzungen. Prof. Dr. Grenacher ist stellvertretender Vorsitzender der Arbeitsgemeinschaft „Abdominelle Radiologie“ der Deutschen Röntgengesellschaft: „Allein wir haben 3.700 Begriffe vorgelegt bekommen, deren Übersetzung wir aktuell auf ihre Korrektheit überprüfen. Das ist das radiologische Vokabular, was zukünftig für strukturierte Befundung verwendet werden darf.“ Ein Aufwand, der sich lohnt. Damit ein Chirurg mit einem Befund etwas anfangen kann, müssen alle Fachausdrücke korrekt verwendet werden. Basis dafür ist, dass die Bezeichnungen bekannt sind. „Und das ist genau der Vorteil von strukturierter Befundung: Wenn man nur noch zwischen drei oder vier verschiedenen Formulierungsmöglichkeiten auswählen kann, muss man sich den Begriffen stellen und ihre Definitionen kennen. Man wird gezwungen, detailliert und exakt Stellung zu nehmen.“
Das Update für RIS
„Strukturierte Befundung wird in der Zukunft – da bin ich völlig sicher – in unser klassisches RIS-System Einzug halten.“ Der Radiologe wird den Patienten dann nach wie vor zum Diktat aufrufen können. Doch das bisher freie Diktat wird durch ein vorgegebenes Antwortmuster der strukturierten Befundung ersetzt. Der Mediziner orientiert sich dann ausschließlich an diesem festen Rahmen, gibt beispielsweise Maße ein, beschreibt die Lage und trifft die Wahl der Diagnose. Damit diese korrekt ist, erwartet Prof. Grenacher eine weitere Funktion im RIS. „Das Programm muss in der Lage sein, die Definition der Begrifflichkeit in einer Art Info-Table nochmals anzuzeigen, damit der Radiologe dann auch die richtige Entscheidung treffen kann.“
„Ein Beispiel: Wenn der Radiologe von einem Pankreastumor spricht, wird die strukturierte Befundung sofort fragen: Wie ist der Kontakt zum Truncus coeliacus? Wie ist der Kontakt zur Arteria mesenterica superior? Es gibt dann ausgewählte Begrifflichkeiten, die man an dieser Stelle verwenden muss wie „abutment“ oder „encasement“. Anhand derer entsteht ein Befund, mit dem der Therapeut mit großer Sicherheit auch etwas anfangen kann.“
Strukturierte vs. freie Befundung
Bei der strukturierten Befundung geht es nicht um die bloße Vereinheitlichung. „Es gibt mittlerweile einige gute Studien, welche den Effekt von strukturierter Befundung auf verbesserte Befundqualität und in der Folge auch auf die sich aus den Befunden ableitenden Therapien hin untersuchen.“ So auch die Untersuchung „Structured reporting of multiphasic CT for pancreatic cancer: potential effect on staging and surgical planning.“, welche 2015 in Radiology (Brook O.R. et al) veröffentlicht wurde. Im Rahmen der Studie hat man am Beispiel des Pankreaskarzinoms die Wirkung von strukturierter Befundung untersucht. “Beim Pankreaskarzinom müssen ausgewählte Features in der Befundung angesprochen werden. In der Studie wurden zwölf Kriterien erarbeitet, welche unbedingt Erwähnung finden sollten. Dann hat man verglichen: Wie viele dieser Kriterien wurden in freien und wie viele in strukturierten Befunden gefunden?“ Bei nicht-strukturierten Befunden hat man im Durchschnitt nur 7,3 der 12 Kriterien abgearbeitet. Strukturierte Befunde enthielten durchschnittlich 10,6 der 12 Kriterien. Ein signifikanter Unterschied. „Und was besonders hervorzuheben ist: Die drei entscheidenden Kriterien, die über die Operabilität entscheiden, wurden regelmäßig in der nichtstrukturierten Befundung vergessen, so zum Beispiel der Gefäßkontakt des Tumors.“ Ein Fehler, der weitreichende Folgen für den Patienten haben kann. Diese und weitere Studienergebnisse liefern für Prof. Dr. Grenacher den Beweis: Es braucht eine strukturierte Befundung. „Sie zwingt den Radiologen, auch auf schwierig zu definierende Sachverhalte einzugehen, die dann aber in der anschließenden Therapie eine enorme Konsequenz haben.“
In der Studie wurde auch die Zufriedenheit der Zuweiser als Adressaten der Befunde untersucht. Die Chirurgen waren mit den strukturierten Befunden wesentlich zufriedener als mit freien Befunden – im Gegensatz zu den Radiologen: Diese bevorzugen im Schnitt die freien Befunde. Das überrascht nicht. Denn natürlich bedeutet die strukturierte Befundung mehr Aufwand für den Radiologen. Das ist auch Prof. Dr. Grenacher klar: „Es ist immer einfacher, frei von der Leber weg Texte zu diktieren.“
Strukturierte Befundung bietet aber auch für Radiologen Vorteile: „Sie ist klar und eindeutig zu verstehen und zudem sehr übersichtlich. Wie ein Pilot im Cockpit vor dem Start des Flugzeugs hakt der Radiologe Listen ab. Er kann nichts vergessen.“ Das bietet vor allem für Anfänger eine zusätzliche Sicherheit.
„Strukturierte Befundung eignet sich besonders für kleine und überschaubare Gebiete, wie zum Beispiel bei der Beschreibung eines Tumors oder einer umschriebenen Erkrankung eines Skelett-Systems. Zudem empfiehlt sich strukturierte Befundung bei Screening, also in der Vorsorge.“ Die Komplexität von Erkrankungen kann hingegen oft nicht adäquat erfasst werden, da oft nur strukturiert etwas abgearbeitet wird und damit die intellektuelle Leistung, die der Radiologe als Arzt vollbringt, auf der Strecke bleibt. „Er setzt dann die Symptome und Beschwerden ins Verhältnis zu Bildinterpretationen. Das wird in der strukturierten Befundung nicht richtig abgebildet.“
Hier hat der konventionelle, freie Befund laut Prof. Dr. Grenacher den Vorteil auf seiner Seite: „Komplexe Situationen wie zum Beispiel Komplikationen nach einer Operation kann er besser fassen. Zudem erlaubt die Individualität der freien Befundung die Bewertung des Sachverhaltes durch den Radiologen. Was ist seine Meinung als Arzt?“ Dieser Aspekt fällt in der strukturierten Befundung komplett weg, da nur noch in Kategorien gedacht wird.
Der Radiologe wird im Rahmen der strukturierten Befundung zudem zum „Abklicker“ degradiert. Er ist gezwungen, ständig den Blick vom MRT oder CT abzuwenden, da er mit dem RIS abgleichen muss, was von ihm im Rahmen der strukturierten Befundung abgefragt wird. Der ganzheitliche Blick auf das Bild wird unterminiert.“
Die Lösung könnte Prof. Dr. Grenacher zufolge der sogenannte Deep- Learning-Ansatz bringen. „Das könnte die nächste Stufe sein: Selbstlernende Maschinen mit automatischer Befunderkennung identifizieren Strukturen und ordnen sie den jeweiligen Krankheitsbildern zu.“
Automatisierung trifft auf Deep Learning: Was bringt die Zukunft für den Radiologen?
Automatisierung gehört mittlerweile zum täglichen Geschäft. Sie erleichtert Arbeitsprozesse, optimiert Fertigungen und steigert Produktionszahlen. Aber Automatisierung schafft zugleich auch Tätigkeitsprofile ab.
Doch Radiologen wird es auch zukünftig geben, da ist sich Prof. Dr. Grenacher sicher. Lediglich die Rolle des Radiologen wird sich verändern: „In der Zukunft braucht man den Radiologen nicht mehr, um Metastasen zu diagnostizieren. Er wird das Ganze in einen medizinischen Kontext setzen – zum Beispiel in einem Tumor-Board – und entscheidet anschließend mit seinen Kollegen über die individuelle Therapie. Der Radiologe wird zum Moderator und Bewerter. Er ist dann nicht mehr der klassische Befunder, sondern wird zum Entscheider im klinischen Gesamtprozess.“
Deep Learning wird sich wohl in den kommenden Jahren durchsetzen. „Bis sich die Rolle des Radiologen wandelt, wird sicher noch Zeit ins Land gehen. Aber so weit weg von den ganzen Prozessen sind wir nicht mehr.“
Aktuell wird strukturierte Befundung noch recht selten angewandt. Und nicht wenige Radiologen werden sich gegen die Einführung wehren. Aber strukturierte Befundung wird zum innovativen Qualitätsmerkmal, das zukünftig die Empfehlung des Zuweisers beeinflusst. „Die Zuweiser und Kliniker, die die Therapie-Entscheidung vornehmen, fordern früher oder später strukturierte Befundung. Wenn therapeutisch tätige Kollegen in den radiologischen Befunden das lesen, was sie zur Therapieplanung benötigen und von anderen Radiologen einen Prosatext erhalten, der nur 60 bis 70 Prozent der gestellten Fragen abdeckt, wird dies zu einer Umverteilung der Zuweisungen führen. Zumindest in einem zukünftigen, kompetitiven Markt, der sich ausschließlich an Qualität orientiert.“
Und die Zukunft lässt sich nicht auf-halten. Strukturierte Befundung wird sehr bald Einzug in die radiologischen Praxen halten, da ist sich Prof. Dr. Grenacher sicher: „Es gibt aktuell schon sehr gute Ansätze. Natürlich ist es wie mit jeder Neuerung: Dem einen fällt es leichter, dem anderen schwerer. Genaugenommen sind wir aber schon mittendrin im Prozess der strukturierten Befundung und sie wird sich rasant weiter ausbreiten.“
Dieser Prozess ist dabei durch eine schrittweise Entwicklung geprägt. Die komplette strukturierte Befundung wird nicht von heute auf morgen umzusetzen sein. „Im Rahmen von Vorstufen der Einbindung von strukturierten Abschnitten in die bisherigen Freitextbefunde, zum Beispiel um Klassifikationen zu integrieren, nähern wir uns der kompletten strukturierten Befundung an.“
Und Prof. Dr. Grenacher weiß, wovon er spricht. Bei der Diagnostik München kommen in einem ersten Schritt bei immer mehr Untersuchungen Befundstandards im Sinne von Textbausteinen, die größtenteils von Organexperten angefertigt wurden, zum Einsatz. „Die Benutzung ist beliebt, weil man sich im Sinne einer Checkliste gut daran orientieren kann. Gerade bei langen Befunden spart das Zeit, da viel vorformuliert ist.“ In der nächsten Stufe werden wir vordefinierte Bausteine direkt ins RIS implementieren – integriert in die Spracherkennung. „Das ist ein Pilotprojekt von mir und der Firma NEXUS. Wir haben das für das Pankreaskarzinom begonnen. Ein „Fortschrittsbalken“ beim Diktat zeigt dem Radiologen an, ob er 80 Prozent oder erst 20 Prozent der benötigten Informationen diktiert hat. Dies kann er dann über einen Befundcheck kontrollieren. Noch nicht bearbeitete Themen im Befund werden ihm anhand der RadLex-Schlagwortliste angezeigt.“ Dies ist nur eines von verschiedenen Projekten zur Einführung und Optimierung strukturierter Befundung. Prof. Dr. Grenacher empfiehlt, die Entwicklungen weiter zu verfolgen und von anderen zu lernen: „Man muss nicht versuchen, alles selber umzusetzen und das Rad mehrfach neu zu erfinden. Strukturierte Befundung ist das Zukunftsthema der Radiologie. Wenn erste ausgereifte Systeme zur Verfügung stehen und in den Zentren auf ihre Kinderkrankheiten geprüft und verbessert wurden, dann sollte man gelassen einsteigen. Wichtig ist, sich darauf einzulassen und sich nicht quer zu stellen, weil man sich in seiner radiologisch-ärztlichen Kunst eingeschränkt fühlt.“
Prof. Dr. med. Lars Grenacher
l.grenacherdiagnostik-muenchen.de
Lesetipp:
Structured reporting of multiphasic CT for pancre atic cancer: potential effect on staging and surgical planning. Brook OR1, Brook A, Vollmer CM, Kent TS, Sanchez N, Pedrosa I. Radiology. 2015 Feb; 274(2):464-72. doi: 10.1148/radiol.14140206. Epub 2014 Oct 3.