Corona-Risikofaktoren: „Gut eingestellte Hypertoniker und Diabetiker gelten nicht unbedingt als Risikopatienten“

Übergewicht, Herz-Kreislauf-Krankheiten, Diabetes, chronische Atemwegserkrankungen, Geschlecht, Blutgruppe etc. – die Liste der im Zusammenhang mit Covid-19 genannten Vorerkrankungen und Risiken wird immer länger. Und manches – wie Rauchen – wird sogar kontrovers diskutiert. Der Ärztenachrichtendienst druckte ein Gespräch mit dem internistischen Endokrinologen Prof. Christoph M. Bamberger, Direktor der Conradia Medical Prevention Hamburg.

Prof. Dr. Christoph M. Bamberger

„Adipositas gilt als wichtigster Risikofaktor für einen schweren Covid-19-Verlauf bei unter 55jährigen.“

Herr Prof. Bamberger, welche Vorerkrankungen sind in Bezug auf die Verläufe von Covid-19 inzwischen in der Diskussion – wer gilt als Risikopatient?

Wie Ihre Frage schon impliziert, müssen wir in der Tat zwischen dem Ansteckungsrisiko und dem Risiko für einen schweren Verlauf bei bereits Infizierten unterscheiden. Fast alle bisher veröffentlichten Studien beziehen sich auf die Risiken für einen schweren Verlauf. Wenn man sich nachgewiesenermaßen mit SARS-CoV-2 angesteckt hat, liegt das Risiko für einen solchen, mit der Notwendigkeit einer stationären Behandlung einhergehenden Verlauf bei ca. 10 % (da die Dunkelziffer der Infizierten nicht bekannt ist, könnte der tatsächliche Prozentsatz niedriger liegen). Von diesen verstirbt knapp die Hälfte (ca. 4,5 % der nachgewiesenermaßen Infizierten). Deutlich höher liegen die Prozentsätze bei Vorliegen zusätzlicher Risikofaktoren, entsprechend niedriger bei Vorliegen von Schutzfaktoren (vor allem jüngeres Lebensalter). 

Der wichtigste Risikofaktor für eine schweren Verlauf von Covid-19 ist ein hohes Lebensalter – und damit unbeeinflussbar. 87 % aller Todesfälle betreffen Menschen, die über 70 Jahre alt sind. Entsprechend stehen hier die Infektionsschutzmaßnahmen deutlich im Vordergrund.

Die wichtigsten – wenigstens zum Teil – beeinflussbaren Risikofaktoren für einen schweren Verlauf von Covid-19 sind Adipositas (Body Mass Index > 30, wichtigster Risikofaktor bei Menschen unter 55!), ein schlecht eingestellter Diabetes mellitus, vorbestehende Erkrankungen des Herzkreislaufsystems (vor allem ein schlecht eingestellter Bluthochdruck, koronare Herzkrankheit), der Lunge (vor allem COPD) und mit einer Immunsuppression einhergehende Erkrankungen bzw. Therapien, zum Beispiel mit hochdosierten Kortikosteroiden. Auch Krebserkrankungen und chronische Leber- und Nierenerkrankungen gehen mit einem erhöhten Risiko einher.

Warum verursachen diese Vorerkrankungen häufiger schwere Krankheitsverläufe bei einer Infektion mit SARS-CoV-2?

Wohl nie zuvor in der Geschichte der Medizin wurden innerhalb so kurzer Zeit so viele neue Daten zu einer Erkrankung generiert wie im Fall von Covid-19. Über 36.000 wissenschaftliche Publikationen sind seit dem Ausbruch der Pandemie zu diesem Thema erschienen, also durchschnittlich 200 pro Tag! Naturgemäß gibt es da auch viele widersprüchliche Studien und Resultate, gerade auch zum Thema Risikofaktoren und den ihnen zugrundeliegenden Mechanismen. Entsprechend kann ich hier nur einen sehr grob gemittelten Stand der Dinge dieser extrem im Fluss befindlichen Datenlage darstellen.

Eine zentrale Rolle in der Pathogenese von Covid-19 scheint das ACE2-Protein zu spielen. SARS-CoV-2 bindet an dieses Protein und wird darüber in die Zelle eingeschleust. ACE2 wird in der Lunge, aber in anderen Geweben wie dem Herzmuskel und dem ZNS exprimiert, wodurch sich die extrapulmonalen Manifestationen von Covid-19 erklären lassen. Es scheint nun so zu sein, dass eine Hochregulation von ACE2 zu einem verstärkten Virusbefall und damit zu einem schwereren Verlauf führen kann. So findet man beispielsweise bei adipösen Patienten eine stärkere ACE2-Expression, ebenso bei Diabetes mellitus – wobei letzteres bisher nur im Tiermodell gezeigt wurde.

Mindestens ebenso wichtig für den Verlauf von Covid-19 wie der „Virus-Türöffner“ ACE2 ist die Immunitätslage von Infizierten. Alle Krankheiten, die zu einer Immunsuppression führen oder dazu beitragen, erhöhen das Risiko für einen schweren Verlauf, da sich das Virus dann ungehemmt vermehren und ausbreiten kann. Ein hohes Lebensalter ist meist mit reduzierter Immunität assoziiert, ebenso schwere Allgemeinerkrankungen wie beispielsweise maligne Tumoren. Die bei der Adipositas erhöhten Spiegel des Hormons Leptin wirken ebenfalls immunsuppressiv und werden daher für die schweren Verläufe bei adipösen Patienten mitverantwortlich gemacht. Eine Insulinresistenz schränkt die Immunität bekanntermaßen ebenfalls ein, weswegen einige Autoren Typ II-Diabetiker auch dann als Risikopatienten ansehen, wenn ihr Blutzucker zwar gut eingestellt ist, die Insulinresistenz aber nach wie vor besteht.

Auch Steroide werden ja meist zur Immunsuppression eingesetzt und erhöhen entsprechend das Covid-19-Risiko. Interessanterweise wirken hochdosierte Steroide bei besonders schweren Verläufen schließlich wieder protektiv, da in dieser Phase eine überschießende Immunantwort mit einem sog. Zytokin-Sturm pathogenetisch im Vordergrund steht. Besten Schutz bietet also ein normal funktionierendes Immunsystem. Sowohl eine abgeschwächte als auch eine überschießende Immunantwort erhöhen hingegen das Risiko.

Welche Faktoren beeinflussen den Krankheitsverlauf offenbar ebenfalls?

Bisher bewusst nicht erwähnt ist der Risikofaktor Rauchen, weil hierzu besonders widersprüchliche Daten vorliegen. Das liegt unter anderem daran, dass akute Effekte des Rauchens und solche, die auf Tabak-bedingten Langzeitschäden wie zum Beispiel einer COPD beruhen, sich nicht so leicht voneinander unterscheiden lassen. Glaubt man einer französischen Studie, schützt Rauchen vor einem schwereren Verlauf. Dieser Schluss wurde gezogen, weil man in einer Gruppe von hospitalisierten Patienten einen kleineren Anteil an Rauchern fand als in der Normalbevölkerung. Andere Studien kommen zu gegenteiligen Ergebnissen. Rauchen erhöht die ACE2-Expression, was wiederum das Risiko für einen schweren Verlauf erhöhen sollte. Möglich ist aber auch, dass die Progression zu einem Zytokin-Sturm durch die immunmodulierenden Eigenschaften von Nikotin gebremst wird, was eine gewisse Protektion bieten würde. Hier sind Studien mit reinen Nikotinpräparaten unterwegs. Unter dem Strich überwiegen auch bezüglich Covid-19 die Nachteile des Rauchens, so dass die Pandemie eher ein zusätzlicher Anlass sein sollte, den Tabakkonsum zu beenden. Die Ergebnisse der Studien mit reinem Nikotin bleiben abzuwarten.

Weltweit ist eine Prädominanz der Männer bei schweren Verläufen und Todesfällen zu verzeichnen. Bei den über 70jährigen sterben doppelt so viele an Covid-19 erkrankte Männer wie erkrankte Frauen. Es wird vermutet, dass die bekannten immunstimulierenden Wirkungen des weiblichen Sexualhormons 17beta-Östradiol eine gewisse Schutzfunktion vermitteln. Ein Östrogen-geprägtes Immunsystem ist vermutlich auch nach dem weitgehenden Versiegen der Östrogenproduktion in den Wechseljahren noch aktiver als ein Testosteron-dominiertes. Hinzu kommt, dass Männer im Durchschnitt ungesünder leben als Frauen, zum Beispiel mehr rauchen und Alkohol trinken, wodurch die relevanten Organsysteme stärker vorgeschädigt sind als bei Frauen.

Gelten gut eingestellte chronisch Kranke ohne bislang vorhandene Folgeschäden ebenfalls als Risikopatienten?

Das hängt von der Vorerkrankungen ab. Viel diskutiert wurde die Frage, ob ein gut eingestellter Hypertoniker nicht trotzdem ein erhöhtes Risiko für einen schweren Covid-19-Verlauf hat, und ob dieses nicht möglicherweise an den verwendeten Antihypertensiva liegen könnte, wobei hier ACE-Hemmer und AT1-Blocker (Sartane) im Fokus standen. Zu Beginn der Pandemie wurden immer wieder tierexperimentelle Daten zitiert, denen zufolge die genannten Medikamente zu einer Hochregulation des bereits erwähnten ACE2 und damit zu einem schwereren Verlauf führen könnten. Diese Hochregulation wird inzwischen kritisch diskutiert, da sie sich in einigen Studien nicht nachweisen ließ. Zudem mehren sich die Hinweise, dass sowohl ACE-Hemmer als auch Sartane den Verlauf von Covid-19 eher günstig beeinflussen können. Entsprechende Interventionsstudien sind unterwegs, erste Ergebnisse sollen in Kürze folgen. Stand heute ist die Empfehlung, dass diese Medikamente im Kontext von Covid-19 keinesfalls abgesetzt werden sollten. Zusammenfassend gilt also derzeit: Ein gut eingestellter arterieller Hypertonus ist ebenso wenig als Risikofaktor für einen schweren Verlauf anzusehen wie die Medikamente, mit denen er eingestellt wird.

Gut eingestellte Diabetiker sind nach Einschätzung der Deutschen Diabetes Gesellschaft (DDG) nicht gefährdeter als Nichtdiabetiker, was das Risiko eines schweren Covid-19-Verlaufs angeht. Diese Ansicht wird jedoch nicht von allen Diabetologen geteilt. Sie verweisen in diesem Zusammenhang auf die Insulinresistenz als den Hauptrisikofaktor und auf die Tatsache, dass diese auch bei vielen gut eingestellten Diabetikern vorhanden sei. Eindeutig belegt ist allerdings, dass gut eingestellte Diabetiker ein geringeres Risiko haben als solche mit einer schlechteren glykämischen Kontrolle. Eine optimale Blutzuckereinstellung ist also auch in Bezug auf Covid-19 eindeutig anzustreben.

Problematisch ist die Situation bei Patienten, die wegen einer Erkrankung aus dem rheumatischen Formenkreis immunmodulierende Medikamente erhalten. Selbst wenn die Krankheitsaktivität unter diesen Medikamenten gut kontrolliert ist, kann sich die therapeutisch ausgenutzte immunsuppressive Wirkung negativ auf den Verlauf von Covid-19 auswirken. Absetzen kann man die Medikamente aber auch nicht, da sonst zum einen die Grundkrankheit wieder auftreten und den Organismus schwächen könnte. Zudem droht nach Absetzen von Immunsuppressiva eine überschießende Immunreaktion auf das Corona-Virus bis hin zum gefürchteten Zytokin-Sturm. Rheumatologen empfehlen daher die Fortführung der Medikation in Verbindung mit einer besonders strikten Einhaltung der AHA-Regeln (Abstand, Hygiene, Alltagsmaske).

Im Vergleich mit vielen anderen Ländern gab es in Deutschland weit weniger Todesfälle bezüglich der Infektionszahlen. Womit erklären Sie sich das?

Bei uns standen von Anfang an hohe Corona-Testkapazitäten zur Verfügung. Infektionen mit dem neuen Corona-Virus wurden so frühzeitiger erkannt als anderswo. In Kenntnis dessen konnte man bei einem sich andeutenden kritischen Verlauf frühzeitig Maßnahmen ergreifen, von der stationären Überwachung und Sauerstoffgabe bis hin zur kontrollierten Beatmung und anderen intensivmedizinischen Maßnahmen. Auch dass hierfür ausreichende Kapazitäten vorhanden waren und sind, das System also niemals auch nur annähernd ausgelastet wurde, hat sich sehr positiv ausgewirkt.

Diesen Vorteil könnten wir aber natürlich leicht verspielen, wenn wir die Infektionsschutzmaßnahmen allzu stark zurückfahren würden, und die Zahl der schweren Verläufe die der zur Verfügung stehenden Intensivbetten daraufhin überstiege. Aber noch einmal: Am Anfang steht das Testen, und das sollten wir so stark ausweiten wie irgend möglich.

In unserem Präventionszentrum in Hamburg haben wir das übrigens von Anfang an so umgesetzt: Jeder, der sich bei uns gründlich durchuntersuchen lassen möchte, wird vorab getestet. Ebenso testen wir alle unsere Mitarbeiter wöchentlich. Auch testen wir bei allen unseren Patienten, ob Corona-Antikörper vorhanden sind. Dabei haben wir festgestellt, dass die Dunkelziffer zumindest in Hamburg recht niedrig sein muss. Wir hatten noch keinen einzigen Fall mit nachweisbaren Antikörpern, bei dem der betreffende Patient nicht entweder vor einiger Zeit eine nachgewiesene Corona-Infektion durchgemacht oder zumindest Covid-19-typische Symptome gehabt hatte. In der Phase des Shutdowns kamen übrigens deutlich weniger Patienten zum Gesundheits-Check zu uns. Jetzt sind es sogar mehr als zuvor, denn die Menschen wollen nicht nur wissen, wie gesund sie sind, sondern auch, ob bei Ihnen nicht mögliche Risikofaktoren für einen schweren Corona-Verlauf vorliegen könnten.

Betreffen die angesprochenen Risikofaktoren nur die Infektionsverläufe von Covid-19 oder auch die Ansteckungsgefahr?

Das ist eine spannende, meines Erachtens viel zu wenig diskutierte und untersuchte Frage. Nach längerem Kontakt mit einer infizierten Person, liegt das Risiko, sich dadurch selbst zu infizieren, bei 10-15 %. Es sei denn, es handelt sich bei der Kontaktperson um einen sogenannten Superspreader, also einen Infizierten mit einer aktuell maximalen Virusabsonderung.

Nachdem man anfangs dachte, dass die Blutgruppe über die Schwere des Covid-19-Verlaufs mitentscheidet, geht man inzwischen davon aus, dass sie eher das Infektionsrisiko selbst beeinflusst. So findet sich unter den SARS-CoV-2-Positiven ein etwas höherer Anteil an Menschen mit Blutgruppe A, als es der Verteilung in der Normalbevölkerung entspricht. Das Gegenteil ist für Menschen mit der Blutgruppe 0 der Fall. Daraus leitet sich die Schlussfolgerung ab, dass die Blutgruppe A mit einem erhöhten Infektionsrisiko einhergeht, die Blutgruppe 0 hingegen vor der Infektion schützt. Die Blutgruppen B und AB scheinen bezüglich des Corona-Infektionsrisikos neutral zu sein.

Sehr interessant sind ganz neue Daten von gesunden Blutspendern, die auch zuvor nicht an Covid-19 erkrankt waren. Bei 35 % von ihnen fanden sich Immunzellen, die auf das Spike-Protein von SARS-CoV-2 reagierten, vermutlich aufgrund eines früheren Kontaktes mit anderen Corona-Viren. Es muss noch bewiesen werden, ist aber gut möglich, dass diese Immunzellen auch das neue Corona-Virus attackieren und somit eine Immunität vermitteln. Das würde auch erklären, warum sich viele Menschen trotz engen Kontaktes zu Corona-positiven Personen nicht infizieren.

Solange keine wirksame Impfung zur Verfügung steht, bietet eine überstandene SARS-Cov-2-Infektion nach derzeitigem Kenntnisstand aber nach wie vor den besten Schutz gegen eine erneute Infektion, selbst wenn noch nicht klar ist, wie sicher und anhaltend dieser Schutz ist.

Wie erklären Sie sich die mitunter schweren Krankheitsverläufe außerhalb der klassischen Risikoprofile (Kinder, gesunde, junge und sportliche Menschen etc.)?

Auch unter jungen und gesunden Menschen gibt es solche mit einer eher schwächeren Immunität und einer generellen Infektionsneigung – das ist zum Teil genetisch bedingt. Auch konnte gezeigt werden, dass Menschen, die als Säuglinge nicht oder nur sehr kurz gestillt wurden, eine leicht erhöhte Infektionsneigung haben. Für Covid-19 ist das speziell nicht bewiesen, wäre aber auch in diesem Kontext eine mögliche Erklärung.

Auf der anderen Seite – und das ist bei Weitem der größere Anteil – gibt es natürlich viele Menschen, die zu einer überschießenden Immunreaktion neigen, man denke nur an die hohe Prävalenz der Allergien und Autoimmunerkrankungen. Wenn man diesen sicher noch recht spekulativen Gedanken weiterführt, würde diese Gruppe auch anfälliger für einen Zytokin-Sturm und damit für einen sehr schweren Verlauf von Covid-19 sein.

01.08.2020 16:38, Autor: Interview: Jutta Heinze,

© änd Ärztenachrichtendienst Verlags-AG

Quelle: www.aend.de/article/207456